Guten Morgen euch allen,
liebe Brüder und Schwestern!
Gestattet mir, dass ich mich auf diese Weise – als Bruder im Glauben für die Christen und als euer aller Bruder – im Namen der gemeinsamen religiösen Suche und der Zugehörigkeit zur selben Menschheit an euch wende. Die Menschheit kann in ihrem religiösen Sehnen mit einer Gemeinschaft von Wanderern verglichen werden, die auf der Erde unterwegs ist und ihren Blick zum Himmel richtet. Diesbezüglich ist bezeichnend, was ein Gläubiger, der aus der Ferne kam, über die Mongolei sagte. Er schrieb, er sei dorthin gereist und habe »nichts als Himmel und Erde gesehen« (Guglielmo di Rubruk, Viaggio in Mongolia, XIII/3, Mailand 2014, S. 63). Der Himmel, so klar, so blau, küsst hier nämlich die weite und beeindruckende Erde und erinnert an die beiden grundlegenden Dimensionen des menschlichen Lebens: die irdische, die aus den Beziehungen zu den Anderen besteht, und die himmlische, die aus der Suche nach dem Anderen besteht, der uns übersteigt. Kurz gesagt, erinnert uns die Mongolei an die Notwendigkeit für uns alle, Pilger und Wanderer, den Blick nach oben zu richten, um auf Erden den rechten Weg zu finden.
Ich freue mich daher, bei dieser wichtigen Begegnung mit euch zusammen zu sein. Ich danke einem jeden und einer jeden herzlich für die Anwesenheit und für alle Beiträge, die unser gemeinsames Nachdenken bereichert haben. Die Tatsache, dass wir am selben Ort beisammen sind, ist bereits eine Botschaft: Die religiösen Traditionen stellen in ihrer Originalität und Verschiedenheit ein großartiges Potential an Gutem im Dienste der Gesellschaft dar. Würden die Verantwortungsträger der Nationen den Weg der Begegnung und des Dialogs mit den Anderen wählen, so wäre dies gewiss ein entscheidender Beitrag zur Beendigung der Konflikte, die fortwährend Leid über viele Völker bringen.
Die Möglichkeit, zusammenzukommen, um einander kennenzulernen und zu bereichern, bietet uns das geliebte mongolische Volk, das sich einer langen Geschichte des Zusammenlebens von Vertretern verschiedener religiöser Traditionen rühmen kann. Es ist schön, sich an die tugendreiche Praxis der einstigen kaiserlichen Hauptstadt Karakorum zu erinnern, in der es Gotteshäuser verschiedener religiöser Bekenntnisse gab, was von einer lobenswerten Harmonie zeugt. Harmonie: Ich möchte dieses in Asien sehr geläufige Wort hervorheben. Es meint jene besondere Beziehung, die sich zwischen verschiedenen Wirklichkeiten entwickelt, diese aber nicht überlagert und vereinheitlicht, sondern die Unterschiede achtet und dem Zusammenleben nützt. Ich frage mich: Wer ist mehr als die Gläubigen dazu berufen, sich für die Harmonie zwischen allen einzusetzen?
Brüder und Schwestern, der soziale Wert unserer Religiosität misst sich daran, wie gut es uns gelingt, uns mit den anderen Pilgern auf der Erde zu harmonisieren, und wie sehr es uns gelingt, dort wo wir leben, Harmonie zu verbreiten. Jedes menschliche Leben, und erst recht jede Religion, muss sich nämlich am Altruismus »messen«: nicht an einem abstrakten Altruismus, sondern an einem konkreten, der sich in der Suche nach dem Anderen und der großherzigen Zusammenarbeit mit dem Anderen ausdrückt, denn »der Weise freut sich am Geben, und allein dadurch wird er glücklich« [»the wise man rejoices in giving, and by that alone does he become happy«] (The Dhammapada: The Buddha’s Path of Wisdom, Sri Lanka 1985, Nr. 177; vgl. die Worte Jesu in Apg 20,35). Ein Gebet, das von Franz von Assisi inspiriert wurde, lautet: »Wo Hass herrscht, lass mich Liebe entfachen. Wo Beleidigung herrscht, lass mich Vergebung entfachen. Wo Zerstrittenheit herrscht, lass mich Einigkeit entfachen.« Der Altruismus schafft Harmonie, und wo es Harmonie gibt, da besteht Einvernehmen, Wohlergehen, Schönheit. Harmonie ist vielleicht sogar das passendste Synonym für Schönheit. Im Gegensatz dazu ruinieren Verschlossenheit, einseitiges Aufoktroyieren, Fundamentalismus und ideologischer Zwang die Geschwisterlichkeit, sie schüren Spannungen und gefährden den Frieden. Die Schönheit des Lebens ist eine Frucht der Harmonie: Sie ist gemeinschaftlich, sie wächst mit der Höflichkeit, mit dem Zuhören und mit der Demut. Und es ist das reine Herz, das sie erfasst, denn »die wahre Schönheit liegt letztlich in der Reinheit des Herzens« (M.K. Gandhi, Il mio credo, il mio pensiero, Rom 2019, S. 94). [...]
Lesen Sie mehr in der Printausgabe.
|