»Dann bauen sie die uralten Trümmerstätten wieder auf […] Die verödeten Städte erbauen sie neu« (Jes 61,4). An diesen Orten, liebe Brüder und Schwestern, können wir sagen, dass sich die Worte des Propheten Jesaja, die wir eben hörten, verwirklicht haben. Nach den schrecklichen Zerstörungen des Erdbebens sind wir heute hier, um Gott Dank zu sagen für alles, was wieder aufgebaut worden ist.
Wir könnten uns aber auch fragen: Wozu fordert der Herr uns auf; was sollen wir heute in unserem Leben aufbauen? Und vor allem: Worauf sollen wir unser Leben aufbauen? Im Versuch, auf diese Frage zu antworten, möchte ich euch drei tragfeste Fundamente vorschlagen, auf denen wir das christliche Leben aufbauen und immer wieder neu errichten können.
Das erste Fundament ist das Gedächtnis. Eine Gnade, die man erbitten muss, ist die Fähigkeit, das Gedächtnis aufzufrischen, die Erinnerung an das, was der Herr in und für uns vollbracht hat. Sich ins Gedächtnis rufen, dass – wie das heutige Evangelium sagt – er uns nicht vergessen hat, dass er an uns »gedacht« hat (Lk 1,72): Er hat uns erwählt, geliebt, berufen und uns vergeben; es hat große Ereignisse gegeben in unserer persönlichen Liebesgeschichte mit ihm, die im Geist und im Herzen neu mit Leben erfüllt werden müssen. Doch es gibt auch ein anderes Gedächtnis, das gehütet werden muss: das Gedächtnis des Volkes. Die Völker haben nämlich ebenso ein Gedächtnis wie die einzelnen Menschen. Und das Gedächtnis eures Volkes reicht in ferne Zeiten zurück und ist kostbar. In euren Stimmen klingen die der heiligen Weisen der Vergangenheit nach; in euren Worten liegt der Widerhall derer, die euer Alphabet geschaffen haben, um das Wort Gottes zu verkünden; in euren Liedern verschmelzen die Seufzer und die Freuden eurer Geschichte miteinander. Wenn ihr an all das denkt, könnt ihr sicher die Gegenwart Gottes erkennen: Er hat euch nicht alleingelassen. Auch unter schrecklichen Widerwärtigkeiten – könnten wir mit dem heutigen Evangelium sagen – hat der Herr euer Volk besucht (vgl. Lk 1,68): Er hat an eure Treue zum Evangelium gedacht, an die Erstlingsfrucht eures Glaubens, an alle, die – auch um den Preis des eigenen Blutes – bezeugt haben, dass die Liebe Gottes besser ist als das Leben (vgl. Ps 63,4). Es ist schön für euch, dass ihr euch dankbar daran erinnern könnt, dass der christliche Glaube zum Atem eures Volkes und zum eigentlichen Kern seines Gedächtnisses geworden ist.
Der Glaube ist auch die Hoffnung für eure Zukunft, das Licht auf dem Lebensweg, und er ist das zweite Fundament, über das ich zu euch sprechen möchte. Es gibt immer eine Gefahr, die das Licht des Glaubens verblassen lassen kann, und das ist die Versuchung, ihn auf etwas aus der Vergangenheit zu reduzieren, auf etwas Wichtiges, das aber anderen Zeiten angehört, als sei der Glaube ein schönes Buch mit Miniaturen, das in einem Museum aufbewahrt werden muss. Wenn aber der Glaube in die Archive der Geschichte eingeschlossen wird, verliert er seine verwandelnde Kraft, seine lebendige Schönheit und seine positive Offenheit allen gegenüber. Dagegen entspringt der Glaube und erblüht immer neu aus der lebendigen Begegnung mit Jesus, aus der Erfahrung seiner Barmherzigkeit, die Licht in alle Lebenssituationen trägt. Es wird uns gut tun, jeden Tag diese lebendige Begegnung mit dem Herrn wieder aufleben zu lassen. Es wird uns gut tun, das Wort Gottes zu lesen und uns im schweigenden Beten seiner Liebe zu öffnen. Es wird uns gut tun zuzulassen, dass die Begegnung mit der Zärtlichkeit des Herrn die Freude im Herzen entzündet – eine Freude, die größer ist als die Traurigkeit, eine Freude, die sogar dem Schmerz standhält, indem sie sich in Frieden verwandelt. All das erneuert das Leben, macht es frei und gefügig angesichts von Überraschungen, bereit und verfügbar für den Herrn und für die anderen. Es kann auch geschehen, dass Jesus jemanden in die engere Nachfolge ruft, dazu, das eigene Leben ihm und den Brüdern und Schwestern zu schenken: Wenn er – speziell euch junge Freunde – dazu einlädt, dann habt keine Angst, sagt ihm: »Ja«! Er kennt uns, er liebt uns wirklich und möchte das Herz von den Lasten der Furcht und des Stolzes befreien. Wenn wir ihm Platz machen, werden wir fähig, Liebe auszustrahlen. Auf diese Weise könnt ihr an eure große Geschichte der Evangelisierung anknüpfen – die Kirche und die Welt brauchen sie in diesen geplagten Zeiten, die aber auch Zeiten der Barmherzigkeit sind. [...]
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